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  • AutorenbildXenia

Warum lautes, falsches Mitsingen hilft.

Hauptsache: Gänsehaut!


Kaum etwas berührt uns im Inneren so sehr wie Musik. Kaum etwas bringt unsere Gefühle so sehr in Wallung wie Musik. Ein Rock-Song lässt die Füße wippen, während eine Sonate in Moll uns bisweilen tief anrührt. 1


Plötzlich sitze ich hier also und höre den kleinen Bach fröhlich über Kieselsteine hüpfen. Diesen Bach im Böhmerwald, wie er zu einem halbstarken, wilden Fluss heranwächst und irgendwann als breiter, stolzer Strom die wunderschöne Stadt Prag durchquert, um dann letztlich in die Elbe zu münden. Die Elbe, den Fluss, der meine Heimat ist. Hamburg.


Genau da hat es mich hinein katapultiert - in diese oben genannten Wallungen. Völlig unvorbereitet!

  • An einem Abend.

  • Nur für mich.

  • Nur für ein paar Stunden.

  • Vollständig abgekoppelt vom Krieg, der mitten in Europa tobt. Dieser Krieg, der mich bereits tagelang und nächtelang beschäftigt und mich zunehmend belastet.

An diesem Freitagabend im März 2022 sitze ich nun hier und „fühle“ Smetanas Moldau! Ein Gänsehaut-Moment für mich.

  • Weil meine Tochter mich mit einer einzelnen Karte für die Hamburger Elbphilharmonie überrascht.

  • Weil ich in einer psychischen Schieflage bin.

  • Weil sie mir „schnell etwas Gutes für die Seele“ schenken möchte.


 

„Musik beeinflusst unsere Gemütslage überraschend prompt. So können beispielsweise fröhlich klingende Stücke trübe Gedanken vertreiben“ 1


Es funktioniert! Die Positivität ist zurück. Der Krieg ist noch da, doch ich kann viel besser helfen und (selbst)wirksam sein, wenn ich fröhlich bin und Zuversicht ausstrahle. Musik hilft mir persönlich sehr schnell, aus einem Loch wieder herauszuklettern (aka bouncing back quickly, aka Resilienz).



„Individuell passende Musik löst Ängste und schafft Veränderungsmotivation“ sagt Dr. Franz Hütter (2011) und stützt sich dabei unter anderem auf eine Studie von Blood und Zatorre (2001). 2


Bei den Probanden dieser Studie konnte die Aktivierung spezifischer Hirnregionen tomografisch beobachtet werden, wenn sie Musik vorgespielt bekamen, die ihnen einen Gänsehaut-Effekt bescherten. Aktiviert wurden v.a.

  • die Kerngebiete des Motivations- und Belohnungssystems (ventrales Striatum, nucleus accumbens)

  • die Zentren für Bewertung, Entscheidung und Körperwahrnehmung (rechter orbitofrontaler Cortex und insulärer Cortex)

  • und Zentren der Aufmerksamkeitssteuerung und Wahrnehmungsfilterung (anteriores Cingulum, Thalamus)

Doch gleichzeitig zeigte sich eine deutlich sichtbare Abnahme der Aktivität in diesen Hirnarealen:

  • Amygdala, beidseitig: zuständig auch für unser subjektives Angstempfinden

  • Teile des ventromedialen Präfrontalcortex, die oft bei der Verarbeitung unangenehmer Erfahrungen aktiv sind


Fazit: Gänsehaut-Musik zaubert uns einen stark belohnend-motivierenden Effekt und hat zugleich eine deutlich angstlösende Wirkung! Ist es nicht genau das, was wir nach über 2 Jahren Pandemie und einem tobenden Krieg mitten in Europa alle ein bisschen brauchen können?


 

Auch der Neurowissenschaftler Stefan Kölsch weiß, wie Melodien Emotionen im Gehirn wecken, was unseren Musikgeschmack prägt und weshalb wir gerade jetzt mitsummen sollten:


„Musik kann unsere Gefühle und Gedanken unmittelbar beeinflussen. In einer Studie stellten wir fest, dass Personen eher glaubten, in einem Lotteriespiel zu gewinnen, wenn sie vorher fröhliche Melodien gehört hatten. Dieser Optimismus verdrängt sogar die natürliche Neigung, vom Negativen auszugehen. … Viele Heranwachsende suchen in der Musik zudem Trost oder Ablenkung. Die Stücke, die ihnen in dieser schwierigen Zeit geholfen haben, lösen dann im späteren Leben ebenfalls gute Gefühle aus.“ 3


Musikgeschmack prägt uns und prägt sich ein, weshalb wir gerade jetzt mitsummen sollten.


Was passiert dabei im Gehirn? Musik aktiviert dabei – grob modellhaft verkürzt - vier verschiedene Affektsysteme in uns:

  • Ein hypothetisches »Vitalisierungssystem« im Hirnstamm

  • Ein hypothetisches »Spaß- und Schmerzsystem« im Zwischenhirn

  • Ein hypothetisches »Glückssystem« im Hippocampus

  • Das sogenannte »Unterbewusste/Unbewusste« im Orbitofrontalcortex


 


Zusammengefasst heißt das für mich: Musik stimuliert uns, uns überkommt eine Gänsehaut, die Pulsfrequenz steigt, die Angst sinkt und gerade deshalb sollten wir jetzt ordentlich mitsummen!




An Alle:

Hört gute Musik!

Gerade jetzt!




Xenia Gerresheim

März 2022

 

Dieser Blog-Artikel ist eine Danksagung und meiner Tochter Luca Gerresheim gewidmet.


Disclaimer: Im Rahmen meiner Scientific Trainer Ausbildung wurde mir bewusst, dass es im Gehirn eben nicht NICHT diese bestimmten Zentren mit genau einer Funktion gibt oder umgekehrt Funktionen, die nur in einem Zentrum realisiert werden.

"Vielmehr ist im Gehirn alles Teamwork, die meisten lokalen Strukturen sind jeweils am Zustandekommen einer Fülle von Leistungen beteiligt und jede einzelne dieser Leistung braucht das Zusammenwirken etlicher, manchmal weit auseinanderliegender anatomischer Strukturen." Dr. Franz Hütter Ich danke dir, Franz, für diese neuen, spannenden und sich ständig erweiternden Sichtweisen.


Quellenangaben:

1 Gehirn und Geist, Spektrum Verlag, 03/21 2 Dr. Franz Hütter, M.A. 3 Stefan Kölsch, Musikpsychologe Wissenschaftliche Referenzartikel/Veröffentlichungen: Stefan Kölsch: The quartet theory of human emotions: An integrative and neurofunctional model (stefan-koelsch.de)


 


Buchtipp zum Thema:


Good Vibrations: Die heilende Kraft der Musik


Prof. Stefan Kölsch


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